3 Kommunikationsrecht
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass unser Rechtssystem auf technischen Fortschritt reagieren muss und kann. Das gilt für die moderne, technikgestützte Kommunikation genauso wie für den Straßenverkehr.
3.1 Klassifikation
Bei der rechtlichen Bewertung von Sprechakten ist grob zwischen folgenden Begriffen zu unterscheiden
- Falsche Aussage (Misinformation)
- Lüge (Desinformation)
- Hetze (Mobbing, Volksverhetzung)
- Drohung
- Gutheißen von Straftaten
- Aufforderung zu Straftaten
- Unterstützung von Straftaten (zum Beispiel durch Veröffentlichung privater Adressen)
- Erpressung
Manche dieser Sachverhalte sind hinreichend durch geltendes Recht sanktioniert (z.B. Erpressung), manche werden nicht hinreichend verfolgt (z.B. Volksverhetzung), und einer ist zu Unrecht nicht einmal strafbewehrt: die Lüge.
3.2 Definition der Lüge
Desinformation (umgangssprachlich ‘Lüge’) ist definierte als eine mit böser Absicht verbreitete Misinformation (umgangssprachlich ‘falsche Aussage’).
3.3 Pflicht zur Wahrheit
Die Wahrheit ist wie das Recht ein hohes Gut. Wir geben viel Geld aus für Institutionen, welche die Wahrheit erforschen und lehren.
Die Lüge ist nicht von der freien Meinungsäußerung gedeckt. Lüge ist keine Meinung. Wer jetzt aufschreit, sei es aus der liberalen oder aus der totalitären Ecke, der sei daran erinnert, dass das achte der zehn Gebote die Lüge ächtet. „Du sollst nicht lügen“ gilt nicht nur für Christen, die die zehn Gebote befolgen, sondern für jedermann, da dieser Grundsatz auch mehrfach in deutschen Gesetzen verankert ist. Zeugen bei einem Strafprozess beispielsweise sind grundsätzlich zur Wahrheit verpflichtet, anderenfalls machen sie sich strafbar (§ 153 StGB). Auch in § 13 SG (Soldatengesetz) ist geregelt, dass ein Soldat in dienstlichen Angelegenheiten die Wahrheit sagen muss. Dies gilt auch für Richter in Deutschland (§ 38 Deutsches Richtergesetz).
Außerhalb dieser speziellen Domänen ist die Lüge aber nicht sanktioniert, denn vor der Erfindung der sozialen Netzwerke und der Verbreitung von Smartphones war das Verbreiten von Nachrichten und Meinungen Profis vorbehalten, war die massenhafte öffentliche Lüge kein Thema, genauso wenig wie haufenweise Verkehrsunfälle vor der Verbreitung des Automobils.
3.4 Soziale Netzwerke
Seit der Erfindung der sozialen Netzwerke und der Verbreitung von Smartphones erleben wir, dass ausländische Mächte und extremistische Kräfte im Inneren durch Lügen die gesellschaftliche Bildung und Wahrheit im größeren Ausmaß zersetzen können. Wir erleben, wie große Bevölkerungsgruppen von technisch verstärkten Desinformationen fehlgeleitet (Brexit), verunsichert und frustriert werden, sich von (halbwegs) seriösen Institutionen abwenden (z.B. vom halbwegs seriösen ÖRR), und in die Fänge dubioser Akteure geraten. Wenn große Bevölkerungsgruppen die vierte Gewalt nur noch als “Lügenpresse”, das Robert-Koch-Institut nur noch als “Impf-Mafia” oder überlebensnotwendigen Umweltschutz nur noch als “Grüne Sekte” wahrnehmen, ist unsere Demokratie in Gefahr. “Der Kreml stuft Deutschland als leichte Beute ein”, so der ehemalige BND-Vizepräsident Arndt Freytag von Loringhoven im Spiegel.
3.5 Allgemeingüter
In Deutschland ist die Schädigung von Allgemeingütern selbstverständlich strafbewehrt, das reicht von Gewässerverunreinigung (§ 324), Bodenverunreinigung (§ 324a), Luftverunreinigung (§ 325) bis zu Gemeingefährlicher Vergiftung (§ 314). Der Kommunikationsraum darf in Deutschland hingegen ungestraft verunreinigt und die Wahrheit unkenntlich gemacht werden: unsere Investitionen in Bildung, Schulen, Universitäten, Volkshochschulen und Öffentlich Rechtlichen Rundfunk (ÖRR) dürfen noch immer durch Verbreitung von Desinformation zunichte gemacht werden, nicht einmal die Vergiftung des öffentlichen Diskurses und unserer Wahlen durch feindliche Propagandalügen steht unter Strafe.
3.6 Öffentliche Lüge
Während im privaten die Lüge vielleicht noch als “Meinungsäußerung” toleriert oder gar als “soziale Kompetenz” gelobt werden konnte, gilt dies nicht mehr für die massenhaft technisch verstärkte Lügen im öffentlichen Raum. Das bedeutet, wir müssen uns der Aufgabe stellen, die Kommunikation im öffentlichen Raum genauso effizient und zivilisiert zu regeln, wie den Straßenverkehr.
3.7 Beispiel Wahlen
Ich erlebe immer wieder, dass Menschen der Meinung sind, man könne die Lüge nicht sanktionieren, weil das die freie Meinungsäußerung unterminieren würde. Hier ein einfaches motivierendes Gegenbeispiel: die Lügen von Parteien vor der Wahl.
In der Tat lässt sich schwer erzwingen, dass eine Partei ihre Wahlversprechen in der Regierung auch umsetzt. Wir können die Lüge vor der Wahl nicht grundsätzlich verhindern. Es gibt aber überhaupt keinen Grund, den Parteien modernes Zielgruppenmarketing zu erlauben. Wenn Parteien verschiedenen Wählergruppen verschiedene und schlussendlich widersprüchliche Wahlversprechen machen dürfen, ist dies nicht nur eine Einladung zum Wahlbetrug: bei widersprüchlichen Wahlversprechen bzw. politischen Prioritäten ist der Wahlbetrug unvermeidlich. Statt jedem alles zu versprechen, sollen Parteien bitteschön ein einheitliches Wahlprogramm aufstellen, und damit bei allen für sich werben.
Zielgruppenmarketing vor Wahlen kann man schlicht verbieten, kontrollieren und sanktionieren, mit Geldstrafen und schlimmstenfalls mit dem Ausschluss von der Wahl. Dabei nimmt unsere Demokratie keinen Schaden, sondern im Gegenteil, profitiert durch Transparenz und die Anstrengung der Parteien, dementsprechend vernünftige Wahlprogramme zu erstellen.
3.8 Lüge oder Wahrheit
Wie unterscheiden wir die - juristisch relevante - Lüge von der Wahrheit, ohne Zensur und Willkür Tür und Tor zu öffnen? Zunächst einmal, indem wir ähnlich wie bei der Formulierung von Grundrechten eine allgemein gehaltene Definition wählen, die dann in Gesetzen und Verordnungen ausdifferenziert wird: eine Aussage ist eine Lüge, wenn sie offenkundig falsch ist (Misinformation) und offenkundig mit böser Absicht verbreitet wird (Desinformation).
Es gibt Aussagen, welche in diesem Sinne und ohne weitere Gesetze und Verordnungen offenkundig Lügen sind, z.B. “der Holocaust hat nicht stattgefunden”. Der Wahrheitsgehalt vieler Aussagen ist leicht mit in Wikipedia geronnenem Allgemeinwissen zu überprüfen. Manche Aussagen erfordern zur Überprüfung mehr Arbeit, weil mehrere Quellen betrachtet weden müssen. Praktischerweise haben diese Arbeit vertrauenswürdige Fakt-Checker-Organisationen bereits für uns erledigt:
3.9 Lügenkataloge
Die East Stratcom Task Force, ein Team von Experten des Diplomatischen Dienstes der EU mit einem Hintergrund hauptsächlich in den Bereichen Kommunikation, Journalismus, Sozialwissenschaften und Russlandstudien betreibt den Internetdienst euvsdisinfo.eu. Teil der Website ist eine Datenbank mit (16. August 2024) 17.400 widerlegten Lügen aus Russlands Desinformationskampagnen. Wer bewusst eine dieser Lügen weiterverbreitet, sollte sanktioniert werden.
3.10 Bewusstes Lügen
Was wenn jemand nicht weiß, dass er eine Lüge verbreitet? Generell gilt der Grundsatz “Unnwissenheit schützt vor Strafe nicht”. Von jemandem, der Aussagen öffentlich verbreitet, Journalist oder nicht, darf erwartet werden, dass er etwas Recherche betreibt, um den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen sicherzustellen.
Will man dennoch, dass nur Personen bestraft werden, die zweifelsfrei wissen, dass sie lügen, gibt es ein einfaches Verfahren: man teilt der Person unter Angabe zuverlässiger Quellen mit, dass sie eine falsche Aussage gemacht hat. Wiederholt die Person diese Aussage so oder ähnlich, d.h. im Widerspruch zur übermittelten Quelle, dann lügt sie bewusst. Mit dieser Methode ließen sich auf einfache Art und Weise 99% der Trollaccounts in den Sozialen Netzwerken stillegen, ohne die Kommunikation redlich bemühter Bürger einzuschränken. Ganz im Gegenteil: ohne den Trollmüll wird der Gedankenaustausch freier, ungestörter und produktiver, so wie der Straßenverkehr besser wird, wenn keine Rowdys auf den Straßen sind.
3.11 Dimensionen der Lüge
Die Strafwürdigkeit einer Lüge hängt von vielen Faktoren (bzw. Dimensionen) ab: die Schwere der Lüge, die Häufigkeit der Lüge, die Konsequenzen der Lüge und so weiter. Die Lüge zu bestrafen bedeutet, mathematisch gesprochen, eine Abbildungsfunktion aus diesem multi-dimensionalen Raum der Lügen auf die Höhe der Strafe zu definieren. Ich behaupte hier nicht, dass man ein Regelwerk schaffen kann, das für jeden Einzelfall die Lüge genau von der Wahrheit trennt und bewertet und mit einer passenden Strafe versieht (oder unbestraft lässt).
Was ich aber behaupte ist, dass es in diesem multi-dimensionalen Raum der Lügen Regionen gibt, bei denen man sehr klar sieht, dass es sich um schwerwiegende und strafwürdige Lügen handelt. Wir müssen z.B. nicht zulassen, dass Massen von anonymen bösartig programmierten AI-gesteuerten Bots unsere Kommunikationswege mit Ablenkung, Hass und Hetze verstopfen.
Ich glaube auch, dass die Allgmeinheit von einer Sanktionierung reichweitenstarker bösartiger Lügen profitieren würde. Genauso wie wir davon profitieren, dass nicht jeder wild sein Auto irgendwo abstellt, z.B. vor einer Feuerwehrzufahrt, und deswegen ein brenndendes Haus nicht gelöscht werden kann.
Die Höhe der Strafe sollte eine Funktion der folgenden Faktoren einer Aussage sein:
Strafe = f(Lügengrad, Insistenzgrad, Häufigkeit, Schweregrad, Massengrad, Opfergrad, Profigrad, Lügnerscore)
3.11.1 Lügengrad
Der Wahrheitsgehalt einer Aussage kann oft eindeutig als 100% (wahr) oder 0% (falsch) angegeben werden, im Falle unvollständiger Information als eine Plausibilität zwischen 0% und 100%. Der Lügengrad ist einfach
Lügengrad = 1 - Wahrheitsgehalt
3.11.2 Insistenzgrad
Hat eine Person eine Lüge trotz Belehrung wiederholt, kodieren wir 100%, liegt keine Wiederholung vor, kodieren wir 0%, für Aussagen welche sich mit einer Belehrung überlappen, mit einer Zahl zwischen 0% und 100%.
Das Publizieren mit abgeschalteter Kommentarfunktion wird sowie bösartiges Missverstehen wird auch ohne Wiederholung mit einem hohen Insistenzgrad kodiert.
3.11.3 Häufigkeit
Troll- und Spam-Accounts wiederholen typischerweise ihre Lügen sehr oft. Das ist viel billiger, als für den Einzelfall maßgeschneiderte Lügen zu fabrizieren. Deshalb ist die Häufigkeit einer Lüge ein nützliches Merkmal bei der Bestimmung der Höhe der Strafe.
3.11.4 Schweregrad
Manche Lügen lassen keine negativen Folgen erwarten, sie sind vielleicht unästhetisch, aber erfordern keine Sanktionierung. Die Aussage, “alle Schwäne sind lila” ist zu 100% gelogen, dürfte aber in der Regel folgenlos sein. Die Aussage “alle Ukrainer sind Nazis” hingegen, ist nicht nur gelogen, sie ist auch geeignet, die Unterstützung der angegriffenen Ukraine zu unterminieren, und damit dem Aggressor Putin zum Sieg zu verhelfen, mit genozidalen Folgen für die ukrainische Bevölkerung und schlimmen Folgen für die Europäische Sicherheit.
Bei der Bestimmung des Schweregrads einer Lüge sollten zumindest die Konsequenzen für die folgenden Aspekte berücksichtig werden, zwischen harmlos (0%) und schädlich (100%)
- persönliche Sicherheit
- innere Sicherheit
- äußere Sicherheit
Der Schweregrad wird als Maximum der Bewertungen der relevanten Sicherheits-Aspekte ermittelt.
3.11.5 Massengrad
Desinformationskampagnen (und Hassmobbing) leben von der Zahl der teilnehmenden Täter. Deshalb ist die Anzahl der Lügner ein wichtiges Merkmal bei der Bestimmung der Höhe der Strafe. Diese Regel ist essentiell, denn
- über Wahrheit lässt sich nicht abstimmen
- Täter dürfen sich nicht hinter eine Gruppe verstecken können
Deshalb werden (und müssen) Straftaten aus Gruppen (§ 184j) heraus ganz besonders sanktioniert werden.
3.11.6 Opfergrad
Wir erachten eine Straftat als schlimmer, wenn sie sich gegen eine wehrlose unschuldige Person oder Personengruppe richtet, als wenn sie sich gegen eine wehrhafte schuldige Person richtet. Ein unschuldiges - ziviles - Kind zu töten ist etwas anderes als einen angreifenden erwachsenen Soldaten in Notwehr oder Nothilfe.
Die Aussagen “alle Russen sind Nazis” und “alle Ukrainer sind Nazis” sind beide falsch, aber die zweite richtet sich - im aktuellen Kontext 2024 - gegen ein angegriffenes Volk das sich gegen einen Vernichtungskrieg wehrt, ist der Versuch, diesen Vernichtungskrieg zu legitimieren, hat dementsprechend einen hohen Opfergrad.
3.11.7 Reichweite
Die Reichweite gemessen an der Zahl der erreichten Personen ist ein wichtiges Kriterium für die Schwere einer Lüge. Wenn ein Influencer mit einer Million Followern eine Lüge in die Welt setzen, hat das eine andere Qualität als wenn das Klein-Erna oder Klein-Fritzchen mit 20 Followern tun. Wenn Max Musterschüler in einer Schülerzeitschrift mit einer Auflage von 100 Exemplaren eine Lüge veröffenlicht, ist das eher harmlos und kann innerhalb der Schule gehandhabt werden. Völlig anders ist es, als “Experte” mit akademischer Reputation (und Beamten-Pflichten) einen Betrag für den Spiegel schreibt, der pro Ausgabe etwa 4 Millionen Leser erreicht und belügt.
Reichweiten könnte man wie folgt bepunkten:
- bis 500 Leser 0%
- bis 1.000 Leser 10%
- bis 5.000 Leser 20%
- bis 10.000 Leser 30%
- bis 25.000 Leser 40%
- bis 50.000 Leser 50%
- bis 75.000 Leser 60%
- bis 100.000 Leser 70%
- bis 250.000 Leser 80%
- bis 500.000 Leser 90%
- über 500.000 Leser 100%
3.11.8 Profigrad
Ein Fausthieb eines Karatekämpfers wird vor Gericht anders bewertet als der Faushieb eines Laien. Die Hände eines Karateka mit schwarzem Gürtel gelten als Waffen. Von einem Profi erwarten wir einen besonders verantwortungsvollen Umgang mit seinen Waffen.
Den Profigrad einer Lüge bestimmen wir anhand zweier Aspekte (Maximum der Prozentbewertungen):
- Ist der Verfasser der Lüge ein Experte auf dem Feld der Aussage (oder behauptet dies reichweitenstark)?
- Ist der Verfasser ein professioneller Journalist oder professioneller Kommunikator?
Äussert sich ein Vollzeit-Professor für internationale Politik zum Krieg in der Ukraine, handelt es um etwas anderes, als wenn dies ein Laie tut. Wir schlagen folgende Bepunktung vor
- keine Berufsausbildung auf dem Feld der Aussage 0%
- Geselle/Bachelor/FH 20%
- Meister/Master/Diplom 40%
- Promotion 60%
- Habilitation 80%
- Professur 100%
Wird die aktuelle Berufstätigkeit auf dem Feld der Aussage ausgeübt, erhöht sich die Bepunktung um 20% Punkte. Wird Expertentum auf dem Feld der Aussage beansprucht, erhöht sich die Bepunktung um 20% Punkte.
Ausgebildete oder hauptberufliche Journalisten werden mit 100% bewertet. Social Media Konten werden wie folgt bepunktet:
- bis 500 Follower 0%
- bis 1.000 Follower 10%
- bis 5.000 Follower 20%
- bis 10.000 Follower 30%
- bis 25.000 Follower 40%
- bis 50.000 Follower 50%
- bis 75.000 Follower 60%
- bis 100.000 Follower 70%
- bis 250.000 Follower 80%
- bis 500.000 Follower 90%
- über 500.000 Follower 100%
Das Wählen von Kontenoptionen mit besonderer Reichweite erhöht den Punktwert um 20%.
3.11.9 Lügnerscore
Wir bestrafen Wiederholungstäter in der Regel härter, als Ersttäter, denen wir eine Chance auf soziale Rehabilitierung einräumen.
Ein Lügnerscore kodiert die kumulierten Lügen, also die im Laufe der Zeit sichtbar gewordene Unzuverlässigkeit der Quelle. Lügnerscores können pro sozialem Netzwerk gepflegt werden, oder wie beim Flensburger Punkteregister können verhängte Bußgelder und Strafen über verschiedene Veröffentlichunsorgane hinweg gesammelt und aggregiert werden.
3.12 Anonyme Konten
Es gibt gute Gründe dafür, in den sozialen Netzwerken ein Konto anonym zu führen, zum Beispiel wenn man dort gegen die Propaganda russischer Geheimdienste vorgeht. Begeht ein anonymes Konto Straftaten, so ist der Netzwerkbetreiber verpflichtet, den Ermittlungsbehörden die Identität offen zu legen. Was aber macht man bei Ordnungswidrigkeiten: bei denen das Aufdecken der Identität nicht verhältnismäßig ist? Wie kann man Bußgelder von einem anonymen Konto eintreiben?
Ganz einfach: bei anonymen Konten müsste der Netzwerkbetreiber in der Pflicht sein, in Vorleistung zu gehen. Er dürfte versuchen sch die Bußgelder zurückzuholen, oder gar vorab eine Kaution für das Betreiben eines anonymen Kontos verlangen. Bei wiederholten Verstößen (ab einem gewissen Lügnerscore) könnte der Netzwerkbetreiber verlangen, dass der Kontoinhaber die Anonymität aufgibt bzw. das Konto sperren.
3.13 Künstliche Konten
Bots, künstliche Intelligenzen und sonstige Automaten haben kein Recht auf freie Meinungsäußerung und könnten schlicht verboten werden. Hier ist der Netzwerkbetreiber zu sanktionieren, wenn er Bots zulässt oder Sperraufforderungen der Behörden nicht nachkommt. Für widerrechtlich gesperrte Konten muss es Einspruchsverfahren geben (die notfalls vor Gericht enden).
3.14 Kinderkrankenhaus Okhmatdyt
Am 8. Juli 2024 beschoss Russland das Kinderkrankenhaus Okhmatdyt in Kiew mit einer Rakete. Zwei Erwachsene wurden getötet und 30 Menschen wurden verletzt, darunter 10 Kinder Wikipedia.
Am 11. Juli 2024 ist die Chefin und Namensgeberin der pro-Putinistischen Partei “Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)” zu Gast in der Talk-Show “Maybrit Illner” mit durchschnittlich 2.5 Mio Zuschauern im ersten Halbjahr 2024. Die gesamte Sendung ist auf dem Youtube Kanal von ZDFheute (1.3 mio. Abonnenten) einseshbar und hatte (weitere) 580.000 Aufrufe Youtube.
In dieser Talk-Show suggerierte Sahra Wagenknecht, dass das Kinderkrankenhaus Okhmatdyt in Kiew nicht von einer russischen Rakete getroffen wurde, sondern von Trümmerteilen einer Abwehrrakete. Der relevante Ausschnitt ist hier zu finden X
und wird von Gert Wöllmann wie folgt kommentiert:
Methode Wagenknecht: Eine Minute lang den russischen Raketenangriff auf das Kinderkrankenhaus anzweifeln, um dann am Ende – nach Gegenwind – zu behaupten, dass sie darüber gar nicht streiten will, da das ja gar nicht ihr Thema ist. War es nur eine Minute lang.
Sahra Wagenknecht sagte wörtlich:
Ich möchte einen Punkt schon noch richtig stellen, weil sie immer sagen, die Abwehr-Raketen können schützen. Viele zivile Opfer in der Ukraine, das wird ja auch so gemeldet, entstehen auch dadurch, dass Raketen abgefangen werden und die Trümmerteile dann in Zivile Gebiete fahren.
Also in Kiev zum Beispiel, an dem gleichen Tag, an dem auch das Kinderkrankenhaus getroffen wurde, wurden in einem Zentrum für Frauen-Gesundheit mehrere Todes-Opfer gemeldet, die sind durch herunterfallender Raketenteile, äh, ermordet worden.
Auch bei dem Kinderkrankenhaus waren die ersten Meldungen, übrigens, dass das auch herunterfallender Raketenteile waren.
Claudia Major wies darauf hin, dass das eine Desinformation ist:
Das ist als falsch widerlegt worden
Sahra Wagenknecht weicht aus:
Aber ich will darüber gar nicht streiten
Omid Nouripour bestätigt:
Es ist bestätigt von allen Seiten
Sahra Wagenknecht insistiert:
Nein, Es ist nicht bestätigt. Sie haben nur bestätigt, dass sie dort Raketenteile gefunden haben. Das ist aber, wenn sie natürlich eine Rakete abschießen, finden sie die Raketenteile. Mir ist das auch, ich will darüber nicht, ich kenne die Situation nicht. Und ich weiß, dass im Krieg von allen Seiten gelogen wird. Insoweit kann es sein, dass die Russen lügen, es kann sein, dass die Ukrainer lügen. Ich finde, nicht sehr plausibel zur Eröffnung des NATO-Gipfels ausgerechnet, einen Kinderkrankenhaus anzugreifen. Aber ich will darüber nicht streiten, weil das ist nicht mein Thema.
No, she didn’t want to argue about it, but rather spread false claims that would stick in the viewers’ minds. The ARD fact check ” In line with Russian propaganda ’ summarizes this passage under the heading ’False statements about the war in Ukraine ” as follows:
“There are various disinformation methods that are noticeable in Wagenknecht and her party members,” says Klaus Gestwa, Director of the Institute for Eastern European History and Regional Studies at the University of Tübingen. False statements about the war in Ukraine are spread unabashedly.
For example, Wagenknecht suggested on Maybrit Illner’s ZDF Politalk that the Ochmatdyt hospital in Kiev was not hit by a Russian missile, but presumably by debris from a Ukrainian anti-aircraft missile. It is considered fairly certain that the children’s hospital was hit by a Russian Kh-101 (Ch-101) missile. This is one of the conclusions of the preliminary investigation by the UN Human Rights Office.
Damit liegen eigentlich genügend Informationen über eine eindeutige, strafwürdige und gerichtsfeste Lüge von Sahra Wagenknecht vor. Wir werden gleich sehen, dass der Schweregrad dieser Lüge einer Straftat entspricht, und nicht nur das Vereinfachte Bußgeld einer Ordnungswidrigkeit über EUvsDisinfo. Dennoch suchen wir einmal dort nach ‘Okhmatdyt’ und finden acht Einträge, unter anderem diesen “DISINFO: Russia strikes military sites, Kyiv children’s hospital hit by fragments of Western air-defence missiles” aus dem klar hervorgeht, dass es sich um einen Direkttreffer einer russischen Kh-101 Rakete gehandelt hat:
Military experts have concluded unequivocally that the hospital was intentionally hit by a Russian missile, which Ukraine identified as a Kh-101 model launched from Russian aircraft Tu-95MS. The United Nations on 9 July 2024 said there was a “high likelihood” that the children’s hospital in Kyiv suffered “a direct hit” from a Russian missile.
The episode was serious enough to lead to a UN Security Council meeting on 9 July 2024 at Ukraine’s request. Online attempts to blame Ukraine for this incident have been debunked by professional fact-checkers.
Damit ist diese unsanktioniert Lüge noch nicht vorbei. So wie der ARD-Faktencheck über diese und weitere Lügen von Sahra Wagenknecht und ihrer Partei BSW aufgeklärt hat, hatte dies auch der kleine spendenfinanzierte östereichische Faktchecker Mimikama getan. Am 17.8.2024 veröffentlicht der offizielle X-account von BSW (19k Followers) diesen Tweet mit 35k Views
Wir haben die Fakten der selbsternannten ‚Faktenchecker‘ mal geprüft. Ergebnis: Mimika verbreitete Falschinformationen über das #BSW. Jetzt müssen sie sich bei uns entschuldigen. Danke dafür. Nächstes Mal bitte gleich besser recherchieren.
Der Link führt auf eine “Redaktionelle Richtigstellung” von Mimikama in welcher Mimikama jegliche Vorwürfe gegen Wagenknecht zurücknimmt:
Wir hatten behauptet, dass das BSW gezielt prorussische Desinformation verbreite. Diesen Vorwurf nehmen wir hiermit zurück.
und zu dem Kinderkrankenhaus (falsch) “richtigstellt”:
Wir hatten geschrieben, Sahra Wagenknecht habe bei Maybrit Illner https://youtu.be/s23M5K8kaxs behauptet, dass das Kiewer Krankenhaus Ochmadyt mutmaßlich von einer ukrainischen Flugabwehrrakete getroffen wurde, obwohl Untersuchungen belegt hätten, dass das Krankenhaus von einer russischen Rakete des Typs Kh-101 getroffen sei.
Tatsächlich jedoch hatte Frau Wagenknecht lediglich darauf hingewiesen, dass nur bekannt sei, dass das Krankenhaus von Raketenteilen getroffen wurde, nicht aber von welchen. Eine unabhängige Untersuchung, die eine der beiden Seiten stützte, gab es nicht.
Am selben Tag gibt Mimikama zu, zu dieser falsche Richtigstellung durch massiven anwaltlichen Druck gezwungen worden zu sein, andernfalls wäre die Existenz des Vereins bedroht gewesen:
Die letzten 7 Tage waren für mich und das Online-Team von Mimikama eine der herausforderndsten, die wir je erlebt haben. Alles begann, letzten Freitag, mit einer Abmahnung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) bezüglich eines unserer Artikel vom 30. Juli 2024. Der Artikel behandelte die Verbreitung russischer Propaganda durch das BSW, und obwohl wir uns sicher waren, dass unsere Recherchen gründlich und korrekt waren, wurde uns durch den Anwalt von BSW vorgeworfen, Fehler gemacht zu haben.
Die Abmahnung zielte darauf ab, uns zur Abgabe einer Unterlassungserklärung zu zwingen. Der Druck war enorm: Es standen hohe Anwaltskosten und mögliche Vertragsstrafen im Raum, die für unseren kleinen Verein existenzbedrohend hätten sein können. Wir standen täglich im Austausch mit unserem Anwalt und dem von BSW, um eine Lösung zu finden. In dieser Zeit wurde uns bewusst, wie schnell alles, wofür wir arbeiten, auf der Kippe stehen kann.
Wir sind weiterhin überzeugt, dass unsere Berichterstattung korrekt war, doch es ist verständlich, dass der Anwalt von BSW, insbesondere im Kontext des laufenden Wahlkampfs, eine andere Sichtweise hat. BSW hat ein großes Interesse daran, bestimmte Narrative zu schützen, und das macht die Situation besonders kompliziert. Angesichts dieser politischen Spannungen war die Auseinandersetzung unausweichlich. Letztendlich mussten wir uns schweren Herzens entscheiden, die Unterlassungserklärung zu unterzeichnen, um einen langwierigen und kostspieligen Rechtsstreit zu vermeiden. Dieser Schritt fiel uns alles andere als leicht.
Wagenknecht hat also - mit der Finanzmacht von Putin im Hintergund - einen kleinen Faktchecker-Verein gezwungen, seinen Ruf durch eine falsche Richtigstellung zu ruinieren. Dasselbe Manöver konnte sie offenkundig beim Faktencheck der finanzstarken öffentlich-rechtlichen ARD nicht durchziehen (oder hat sich mit der ARD auf die nächste reichweitenstarke Sendung mit Wagenknecht geeinigt: prominentes Einzelgespräch und Talkshow-Teilnahme am 8. September bei Caren Misosga zur besten Sendezeit am Sonntag um 21:45, sowie auffällig viele andere bundesweite Sendungen mit BSW-Protagonisten, obwohl BSW noch nie bundesweit an einer Wahl teilgenommen hat).
Zusätzlich zur Lüge über das Kinderkrankenhaus, dürfte Wagenknecht mit dieser feigen Aktion den Straftatbestand der Nötigung durch Drohung mit einer SLAPP-Klage erfüllt haben. Was die Lüge selbst angeht, beweist diese Episode, dass Wagenknecht wider besseres Wissen und mehrfach gelogen hat, und darüber Dritte zu Lügen genötigt hat.
Kommen wir zur Bepunktung dieser eindeutig als Lüge zu klassifizierenden Aussage:
- Lügengrad: 100% Lüge, verifiziert von diversen Experten, Faktenchecken inkl. EUvsDisinfo
- Insistenzgrad: maximale Insistenz von 100% (trotz Belehrungen durch Experten in der Sendung, ARD Faktencheck, Mimikama Faktencheck)
- Häufigkeit: mehrfache Wiederholung der Lüge, sogar Nötigung eines Faktencheckers die Lüge als Wahrheit zu wiederholen
- Schweregrad: maximale Schwere von 100%, es wird ein Kriegverbrechen geleugnet, um einem angegriffenen Land die Unterstützung zu entziehen
- Massengrad: die Recherche EUvsDisinfo ergab mehrere Treffer
- Opfergrad: 100% die Opfer des Kriegsverbrechens und der Lüge waren kranke Kinder die zur Behandlung im Kinderkrankenhaus waren
- Profigrad: 100% Wagenknecht hat einen Abschluss in Philosophie und einen Doktorgrad in Politik, sie ist eine erfahrene - und mutmaßlich vom FSB ausgebildete - Propagandistin, beansprucht Expertise, ist eine hauptberufliche Bundestagsabgeordnete und hat 727K Followers auf X.
- Lügnerscore: 100% Wagenknecht verbreitet seit Jahre russiche Desinformation
3.15 Prioritätensetzung
Ist die Wahrheit, ist eine friedliche wahrhaftige Kommunikation weniger wichtig als ein flüssiger unfallarmer Autoverkehr?
Wenn man die deutschen Vereine anschaut könnte man das meinen. Der Allgemeine Deutsche Automobil-Club e. V. (ADAC) hat 22 Millionen Mitglieder, der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e. V. (ADFC) hat 230.000 Mitglieder (1% davon), der FUSS e. V. – Fußgängerschutzverein und Fachverband Fußverkehr Deutschland (FUSS) hat unter 1000 Mitglieder (0.5% davon) und der Allgemeine Deutsche Social-Media-Club e. V. (ADSC) hat Null (0) Mitglieder, denn den gibt es gar nicht.
Also ich persönlich verbringe pro Woche 1 Stunde im Auto, 5 Stunden auf dem Fahhrad, 10 Stunden zu Fuß und 28 Stunden mit Medienkonsum und in sozialen Netzwerken.
Nach einer Schweizer Studie beträgt die durchschnittliche Unterwegszeit zwischen 80 und 90 Minuten pro Tag, wovon 40% auf Auto und Motorrad entfallen, also eine gute halbe Stunde. Laut dem Statistik-Portal de.statista.com verbringen die Deutschen 7 Stunden pro Tag mit Medien. Laut Daten von datareportal.com verbringen Menschen weltweit 2 Stunden 20 Minuten in social media.
Betrachtet man die Nutzungsdauer, erscheint ein sicherer und wahrheitsgemäßer Verkehr in den sozialen Netzwerken noch wichtiger als der Autoverkehr.
3.16 Fazit
Ähnlich dem Strassenverkehrsrecht, Teil 2 könnte ein Kommunikationsrecht, Teil 3 gestaltet werden, mit einer angemessen Klassifikation von Sprechakten und Definition der Lüge. Veröffentlichung sollte eine Pflicht zur Wahrheit implizieren, gerade in reichweitenstarken Medien wie Soziale Netzwerke, um gesellschaftliche Allgemeingüter zu schützen. Die Öffentliche Lüge ließe sich ohne Einschränkung der Meinungsfreiheit sanktionieren, wie sich am Beispiel Wahlen zeigen lässt. Lüge oder Wahrheit ließen sich rechtssicher und effizient unterscheiden, etablierte Lügenkataloge erlaubten die automatisierte Verhängung von Geldbußen. Auch Bewusstes Lügen ließe sich rechtssicher diagnostizieren und anhand von acht Dimensionen der Lüge ließe eine angemessene Strafe ermitteln (Lügengrad, Insistenzgrad, Häufigkeit, Schweregrad, Massengrad, Opfergrad, Profigrad, Lügnerscore). Auch Anonyme Konten wären mit automatisierten Bußgeldverfahren machbar, und Künstliche Konten könnten leicht verboten werden. Am Beispiel des Angriffs Russlands auf das Kinderkrankenhaus Okhmatdyt belegen wir den zweifelsfreien Nachweis einer schwerwiegenden Lüge, die leider unsanktiert blieb … aber sanktiert werden könnte und müsste, weil eine angemessene Prioritätensetzung nach Nutzungsdauer von Verkehr in sozialen Netzwerken im Vergleich zum Strassenverkehr dies erfordert, um eine Zersetzung unserer Gesellschaft zu unterbinden.